„Experimentelle Forschung zeigt,
was in der Entwicklungsökonomie wirklich wirkt“
Pressemitteilung | TUM | 10.12.2019
Heute wird der Nobelpreis für Wirtschaft an Abhijit Banerjee (58), Esther Duflo (47) und Michael Kremer (55) „für ihren experimentellen Ansatz zur Linderung der weltweiten Armut“ verliehen. Warum die Ökonomie sich mit diesen Methoden anderen Fächern wie der Medizin nähert, welche Erkenntnisse sie bislang damit produziert hat und wie dies mit dem geringeren Alter der Ausgezeichneten zusammenhängt, können Anja Faße und Sebastian Goerg erklären. Die Wissenschaftlerin und der Wissenschaftler, die an der Technischen Universität München (TUM Campus Straubing) auf ähnlichen Gebieten arbeiten, stehen für Interviews gern zur Verfügung.
Der Wirtschaftsnobelpreis wird dieses Jahr nicht nur für wichtige Erkenntnisse, sondern auch für eine bestimmte Methode verliehen – die aber in anderen Fächern gar nicht so neu ist.
Sebastian Goerg: Bei der Methode handelt es sich um sogenannte Randomized Controll Trials, also randomisierte kontrollierte Studien. Diese Methode wird zum Beispiel seit Längerem in der Medizin angewandt, um die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen. Eine Kontrollgruppe wird nicht behandelt oder erhält ein Placebo, während eine andere Gruppe einen Wirkstoff bekommt. Ob ich nun in der Kontrollgruppe oder in der Gruppe mit dem Wirkstoff bin: Das entscheidet der Zufall. Dadurch sollen systematische Verzerrungen verhindert werden, weil etwa der behandelnde Arzt dazu tendieren könnte, Patienten, die schwerer erkrankt sind, in die Gruppe mit dem Wirkstoff einzuteilen. Damit könnte man dann aber die Ergebnisse nur schwer interpretieren, da man nicht weiß, ob Unterschiede zwischen den Gruppen auf den Wirkstoff oder auf die Zusammensetzung der Gruppen zurückzuführen sind.
Anja Faße: Auf die Entwicklungsökonomie angewandt bedeutet dies, dass Interventionen oder Hilfsmaßnahmen getestet werden und beispielsweise die Dörfer, die Hilfe erhalten, zufällig ausgewählt werden. Das Ziel ist auch hier, eine Kontrollgruppe und eine Vergleichsgruppe zu generieren und diese Gruppen möglichst vergleichbar zu machen. Dadurch erkennt man generell, ob eine Maßnahme die Lebensverhältnisse nachhaltig verbessert und nicht nur in einem Dorf, welches vielleicht besonders offen für diese Maßnahme war oder besonders wohlhabend. Das ist wichtig, da man für zukünftige Kampagnen lernen möchte, welche Interventionen wirken und welche nicht.
Was haben Banerjee, Duflo und Kremer mit ihren Experimenten herausgefunden?
Anja Faße: In Indien untersuchten Banerjee und Duflo mit ihren Ko-Autoren Möglichkeiten, den Impfschutz zu verbessern. In einer Region, in der nur sehr wenige Kinder zwischen einem und zwei Jahren den empfohlenen Impfschutz erhalten hatten, wurden einige Dörfer zufällig ausgewählt, in denen mobile Impfstationen eingerichtet wurden. Zusätzlich wurde dann bei einigen Impfstationen mit Anreizen gearbeitet: Die Mutter erhielt eine Portion Linsen, wenn das Kind geimpft wurde. In den Dörfern, in denen es keine Impfstationen gab, lag die Impfquote bei etwa sechs Prozent. Sie stieg auf 18 Prozent, wenn die Bevölkerung Zugang zu einer Impfstation hatte. Die Tüte Linsen lies die Quote auf 39 Prozent steigen. Ökonomisch betrachtet ist hier interessant, dass die Tüte Linsen zwar zusätzliche Kosten verursacht, aber die Kosten pro Impfung abnehmen. Die Impfstation ist der größte Kostenfaktor; weil aber mehr Leute geimpft werden, sinken die Pro-Kopf-Kosten.
Sebastian Goerg: Ein anderes wichtiges Thema im Bereich der Armutsbekämpfung ist Bildung und der Zugang zu Schulen. Kremer hat unter anderem in Kenia die Auswirkung von Entwurmungskuren auf Schulbesuche untersucht. Kinder, die unter parasitären Infektionen leiden, fehlen häufig im Unterricht und stecken zudem andere Kinder an, die dann ebenso den Unterricht nicht besuchen können. Kremer zeigt, dass Entwurmungskuren nicht nur Fehltage an denjenigen Schulen reduzieren, die diese Kuren durchführen, sondern dass die Fehltage auch an Schulen im Umkreis von bis zu drei Kilometern abnehmen.
Anja Faße: Mit ihrer Forschung zeigen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch, welche Maßnahmen nicht so gut funktionieren. Ein Beispiel hierfür sind sogenannte Mikrokredite, bei denen Kleingewerbetreibende in Entwicklungsländern kleine Kredite erhalten und so wirtschaftlich aktiver werden sollen. Die Vergabe von Mikrokrediten wurde rund um die Jahrtausendwende als große Hoffnung in der Armutsbekämpfung betrachtet. Die von Banerjee und Duflo durchgeführten Studien zeigen aber, dass Mikrokredite nicht die erhöhten Effekte bei der Armutsreduzierung erzielen.
Arbeiten Sie auch mit solchen Feldexperimenten?
Sebastian Goerg: Ja, zum Beispiel untersucht einer meiner Mitarbeiter, Dr. Abu Siddique, inwieweit junge traumatisierte Mütter in Bangladesch aus der Gruppe der geflüchteten Rohingya von speziellen Therapiesitzungen profitieren. Dabei geht es nicht nur um die mentale Gesundheit der Mütter, sondern auch um die Entwicklung ihrer Kinder. Solche Studien helfen in der Entwicklungspolitik, effektive Projekte zu unterstützen.
Die höchste Auszeichnung für Wirtschaftswissenschaften wurde regelmäßig an ältere Herren verliehen – in diesem Jahr ist das anders. Beginnt in der Wirtschaftsforschung eine neue Ära?
Sebastian Goerg: Das durchschnittliche Alter bei den Preisträgern in der Wirtschaftswissenschaft liegt bei ungefähr 67 Jahren. In der Vergangenheit wurden häufig Grundlagenarbeiten ausgezeichnet, die zu dem Zeitpunkt bereits in den Kanon der Lehrbücher eingezogen waren. Es scheint eine Tendenz hin zu Forschung zu geben, die mehr zu aktuellen Themen spricht und eine stärkere Relevanz für die Politik hat. Sollten auch zukünftig aktuelle Themen ausgezeichnet werden, kann es durchaus sein, dass das Alter der Preisträger und Preisträgerinnen dauerhaft sinkt.
Esther Duflo ist erst die zweite Frau in der Geschichte und die jüngste Frau aller Zeiten, die einen Wirtschaftsnobelpreis bekommt. Was bedeutet das für Wissenschaftlerinnen in aller Welt?
Anja Faße: Die erste Frau war Elinor Ostrom, welche den Preis 2009 erhalten hat. Nun hat es zehn Jahre gedauert, bis wieder eine Frau ausgezeichnet wurde. In den vergangenen zwei Jahren wurde vermehrt über Frauen in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert. Dabei ging es um Hemmnisse für Frauen und Fehlverhalten gegenüber Frauen, aber auch wie wichtig Forscherinnen als Vorbilder sind. Es würde mich freuen, wenn jetzt mehr junge Nachwuchswissenschaftlerinnen erkennen, dass man auch als Frau eine erfolgreiche Karriere in der Forschung anstreben kann.
Zu den Personen:
Prof. Anja Faße: ist Prorektorin am TUM Campus Straubing für Biotechnologie und Nachhaltigkeit der Technischen Universität München und leitet dort die Professur für Umwelt- und Entwicklungsökonomie der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Sie forscht insbesondere zu den Themen Agroforst, ländliche Agrar-Wertschöpfungsketten, Nachhaltigkeit, Armut und Ernährungssicherung in Afrika südlich der Sahara.
Prof. Sebastian Goerg: leitet die Professur für Economics am TUM Campus Straubing für Biotechnologie und Nachhaltigkeit der Technischen Universität München und der TUM School of Management. In seiner Forschung verwendet er experimentelle Methoden, um die Wirkungen von Anreizen, Informationen und Institutionen auf menschliches Verhalten in ökonomisch relevanten Situationen zu untersuchen. Von 2012 bis 2018 war er Professor an der Florida State University.